Meine erste Assoziation bei „Tänzerin“ war „Ballett“, doch Roosje Glaser, die Tante des Autors Paul Glaser, war Tanzlehrerein und unterrichtete Standard, Lateinamerikansiche Tänze und die Modetänze der 30er und frühen 40er Jahre in den Niederlanden. Und ja, sie hat in Auschwitz getanzt. Vor den Offizieren. Unter anderem deswegen hat sie überlebt.
Der Lebenwille von Roosje Glaser, die im Laufe der Jahre verschiedene Namen trug, war unglaublich. Ihre Lebenslust ebenfalls. Tanzen wollte sie, seit sie als Kind in Kleve der Tanzlehrerin Lieselotte Benfer begegnet war. So schien es ein Fingerzeig zu sein, als nach dem Tod ihres Lebensgefährten Wim Leo Crielaars ihr die Mitarbeit in seiner Tanzschule und später die Ehe anbot.
Nach der Scheidung entschloss sich Roosje, selbst eine Tanzschule zu eröffnen und tat dies mit großem Erfolg. Dabei war sie in Sachen Marketing sehr erfindungsreich: Ein im Selbsterverlag erschienenes Buch über das richtige Tanzen erhielten ihre Schülerinnen und Schüler gratis.
Doch als Jüdin in den besetzten Niederlanden, wurde ihr ihr Beruf bald verboten; so ging sie in den Untergrund – auf dem Dachboden ihres elterlichen Hauses unterrichtete sie weiter.
Von zwei Männern verraten landete sie erst in Lagern in den Niederlanden, bis sie dann nach Auschwitz kam. Ihre Energie ließ sie immer wieder Schlupflöcher finden, um zu überleben. Ihre Fähigkeiten als Sekretärin bot sie an, um von der harten körperlichen Arbeit wegzukommen, sie tanzte nicht nur für die Aufseher, sie erteilte ihnen sogar Tanz- und Anstandsunterricht. Und sie fand Männer aus der Riege ihrer Bewacher, die mit ihr Beziehungen eingingen.
Diese Geschichte von Roosje lässt Paul Glaser seine Tante quasi selbst erzählen. Dazwischen finden sich kurze Kapitel über seine Fortschritte in Hinblick auf das Buch: Das Schweigen seines Vaters, Roosjes Bruder, das Bände sprach, den Kontakt zu bisher unbekannten, weil jüdischen Verwandten, die Reaktion seiner Geschwister und sein Zusammentreffen mit Roosje und ihrer Cousine Suzie.
So ergibt sich nicht nur ein Bild der Zeit von Roosje als Tanzlehrerin, sondern auch eins unserer Zeit, und den Umgang mit dem Jüdisch-Sein mitten in Europa. Das nimmt mitunter beklemmende Züge an.
Roosje hat nach dem Krieg ihr verloren gegangenes Tagebuch neu geschrieben, in Schweden, wohin sie mit einem Austausch kam (ein KZ-Häftling gegen drei deutsche Soldaten!) – und dabei sicher überarbeitet. Paul Glaser hat viele ihrer Behauptungen überprüft; so zum Beispiel die über die nachteilige Behandlung der zurückgekehrte KZ-Insassen. Die Gesetze nach dem Krieg erschwerten die Rückerstattung jüdischen Eigentums sehr. Roosje nennt die Niederlande „mein mir feindlich gesinntes Geburtsland“. Noch krasser:
Es war nicht mein Unglück, dass ich als Jüdin geboren war, sondern dass ich als Niederländerin geboren war. in Schweden nahm man mich so wie ich war, man begegnete mir mit Respekt (…) (S. 232)
Erst 1964 erhielt Roosje eine Entschädigung – und das auch erst, nachdem sie Königin Juliana selbst angesprochen hatte. Die Höhe: 2.000 Gulden.
Ich habe das Buch an einem Tag ausgelesen. Paul Glaser hat die unterschiedlichen Zeitebenen gut kombiniert. Das Grauen des Lageralltags lässt Roosje in ihren Briefen nur aufschimmern – sie will die Empfängerinnen nicht beunruhigen. In ihren Textpassagen ist mehr von ihrem Engagement, bessere Verhältnisse zu erwirken, von Kabarett zur Unterhaltung der Mitinsassinnen und von ihren Erfolgen die Rede. Das Grauen muss man suchen. Es ist da, ja, aber nach Roosjes postiver Grundeinstellung nicht das bestimmende Element.
Paul Glaser: Die Tänzerin von Auschwitz. Die Geschichte einer unbeugsamen Frau, Aufbau Verlag, Berlin 2015, ISBN: 9783351035877
Die Rezension gehört in die Reihe zu „Thema ’45“.
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