Die schöne Cassandra von Jane Austen

Die schöne Cassandra von Jane Austen

2012 erschien die Sammlung der gesammelten Jugendwerke von Jane Austen erstmals auf Deutsch – in der mir sehr vertrauten Übersetzung von Christian und Ursula Grawe (ich bin mit den Reclambändchen der Werke Austens sozialisiert).

Die Texte entstanden in der Teenagerzeit von Jane Austen, zwischen 1786 und 1793 und dienten der abendlichen Unterhaltung im Familien- und Freundeskreis. Insgesamt 27 Werkchen – im Umfang zwischen einer halben Seite und einer Novelle von ca. 50 Seiten – hat Jane Austen offensichtlich selber zusammengetragen, denn sie finden sich in drei Heften, säuberlich geschrieben und mit „Band 1-3“ bezeichnet, sorgfältig aufbewahrt. Ja, die Hefte wurden sogar regelgerecht vererbt – sie kamen im Testament vor.

Aber was erzählt sie denn nun?

Viel und vor allem viel Kurioses. Ich habe ja bei den Titeln „Lady Susan“ und „Love and Friendship“ schon darauf hingewiesen, dass in diesen Frühwerken ein ganz anderer Ton und ein ganz anderes Personal herrschen als in den sechs großen Romanen der Autorin. Jane Austen bedient sich der literarischen Mittel ihrer Zeit und übersteigert sie. Die Handlungen sind nur schwer verständlich nachzuerzählen und ich bin überzeugt, dass die Zeitgenossen noch viel mehr Spaß als wir Nachgeborenen an den Texten hatten. Ich such Ihnen mal ein paar Perlen raus:

In „Henry und Eliza“ gehen Kindsaussetzung, ruinöser Lebenswandel und Feindschaft über mehrere Jahrzehnte (auf sieben Seiten!) nahtlos ineinander über und die unwahrscheinlichen Ereignisse werden als das normalste der Welt betrachtet.

So heißt es über die Flucht Elizas mit ihren kleinen Kindern aus dem Kerker

Sie entschloss sich, alle ihre Kleider (…) hinunterzuwerfen. Dann gab sie den Kindern den strikten Befehl, sich nicht wehzutun, und warf sie hinterher. Sie selbst kletterte die Leiter mühelos hinab und fand unten zu ihrer Freude ihre kleinen Jungen  bei bester Gesundheit und in tiefem Schlaf. (S. 49)

Ihr Rachefeldzug gegen die Frau, die sie gefangen gehalten hatte beschließt die Geschichte:

So erwarb sie sich die Dankbarkeit von Tausenden und den Beifall ihres eigenen Herzens. (S. 51)

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Eine Silhouette von Cassandra Austen, der Namensgeberin des Bandes und der Schwester und Vertrauten von Jane Austen
In „Eine Sammlung von Briefen“ gibt es mehrere, die jeweils unterschiedliche Leidensgeschichten schildern. In „Von einer jungen Dame in verzweifelter Lage an ihre Freundin“ leidet die Schreiberin unter dem Hochmut ihrer „Gönnerin“, die sich über die Armut äußert:

Es ist nicht meine Art, Leuten vorzuwerfen, dass sie arm sind, denn ich finde immer, man muss sie mehr verachten und bedauern, als ihnen Schuld daran zu geben, vor allem, wenn sie nichts dagegen tun können; (…) (S. 191)

„Eine Erzählung“ hat mal einen jungen Mann zum Helden, der ein Häuschen beziehen will – da er für die zweieinhalb Räume zu viele Leute einlädt, muss er improvisieren – Zelte müssen her:

Ihre Konstruktion war ebenso einfach wie elegant. Ein paar alte Wolldecken, jede an vier Stöcken befestigt, bewiesen aufs überzeugendste, dass Sinn für Architektur und eine leichte Hand beim Überwinden von Schwierigkeiten zu Wilhelmus‘ hervorstechendsten Tugenden gehörten. (S. 219)

Sieht man da nicht förmlich eine Kinderschar im Garten, die „Gesellschaft“ spielt?

Ganz am Ende, der letzte Text der dann 17-jährigen Jane Austen hat als einziger einen anderen Ton. In „Kitty und die Laube“ ist zwar auch viel von Gefühlen die Rede und Unbesonnenheit der Handlung kommt ebenfalls vor, aber insgesamt fehlen die Überspitzungen völlig.

Wie bei den Grawes üblich gibt es auch hier am Ende ausführliche Anmerkungen und ein erläuterndes Nachwort. Einige Übertreibungen und Überspitzungen sind selbsterklärend, aber es ist sehr erhellend, sich die einzelnen literarischen Genres noch mal ins Bewusstsein rufen zu lassen, auf die Jane Austen rekurriert. Außerdem muss auch die Auffassung der damaligen Gesellschaft von Schicklichkeit berücksichtigt werden, um die Explosivität ihrer amoralischen und unanständigen Geschichten würdigen zu können. Die junge Autorin hat vor nichts haltgemacht – Mord, Totschlag, Kindsaussetzung, Diebstahl, Meineid, alles Dinge, die einer jungen Dame nach den Vorstellungen der Gesellschaft völlig unbekannt sein sollten. Kein Wunder, dass die Erben im späteren, noch sehr viel prüderen England der viktorianischen Zeit solche Texte erst recht unter Verschluss hielten.

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Cassandra hat zu Janes „Geschichte der englischen Könige“ die Illustrationen geliefert – auch die findet sich im Band
Ich habe nicht zu jedem der Texte eine Beziehung bekommen – aber in der Summe kann ich sagen, dass ich mich sehr gut unterhalten gefühlt habe. Eine ganz andere Jane Austen als die klassische Auffassung von ihr; man mag von dem lebhaften Teenager noch so oft gelesen haben – die Texte aus ihrer Jugendzeit lassen sie lebendig werden.

Ich habe die wunderhübsche Ausgabe mit den Schwertlilien – diese blumengeschmückte Ausgabe aller Werke Jane Austens bei Reclam ist sehr hübsch, ohne Zweifel, hat aber bedauerlicherweise normales Taschenbuchformat, so dass die Funktion, auch in kleinen Taschen ein Buch dabei haben zu können, sehr eingeschränkt ist. Da lob ich mir meine alten, abgegrabbelten „Gelbjäckchen“ 😉

Jane Austen: Die schöne Cassandra. Sämtliche Jugendwerke, übersetzt von Ursula und Christian Grawe, mit einem Nachwort von Christian Grawe, Reclam Verlag, Stuttgart, 2012, ISBN: 9783150204702

Die Besprechung gehört in meine Reihe „beloved Jane“ anlässlich des 200. Todestags von Jane Austen im Juli 2017

Das Buch gibts auch in der Stadtbibliothek Köln:

als Buch und als E-Book

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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