Die Europäer von Henry James

Die Europäer von Henry James

Für einen Roman von Henry James ist „Die Europäer“ ein eher schmales Werk – nichtsdestoweniger aber höchst unterhaltsam. Anders als von mir zuerst vermutet, betreibt hier nicht ein Amerikaner ethnologische Studien im alten Europa, sondern zwei Menschen dieser alten Welt haben sich auf den Weg in die neue gemacht: Eugenia und Felix.

Was erzählt Henry James

Diese beiden vertreten ein Europa der Verfeinerung, der Konversation und – das zumindest in den Augen ihrer amerikanischen Verwandten – der lockeren Sitten. Felix ist Maler mit einer buntscheckigen Vergangenheit und heiterem Gemüt. Eugenia, das stellt sich im Laufe der Geschichte heraus, ist in morganatischer Ehe mit dem jüngeren Bruder eines regierenden Fürsten verbunden. Das brachte ihr den Titel einer Baronin ein. Doch nun soll dieser Gatte standesgemäß verheiratet und Eugenia abserviert werden. Grund genug für die beiden mittellosen Geschwister, sich ihrer – hoffentlich reichen – amerikanischen Verwandtschaft zu erinnern und sie aufzusuchen. Bereits in der ersten Szene wird der Unterschied von Bruder und Schwester deutlich; während sie das Wetter, die Umgebung und das, was sie von den Menschen sieht, abscheulich findet, bezeichnet Felix alles als angenehm und interessant. Ihm obliegt der Antrittsbesuch bei Familie Wentworth. Als Leserin habe ich die Schwestern Gertrude und Charlotte bereits vorher kennengelernt und eine Ahnung davon bekommen, dass hier Konflikte schwelen.

Nach dem Einzug in das kleine Häuschen gegenüber dem Familiensitz kann das Spiel beginnen. Eugenias Absicht ist es, ihre morganatische Ehe durch eine lukrativere legale Ehe in Amerika abzulösen. Felix – ja, grundsätzlich will er auch reich heiraten, aber im Grunde ist er ein Bruder Leichtfuß und vertraut auf seinen guten Stern.

Auf der anderen Seite: Charlotte versucht, ihre eigenwillige Schwester Gertrude zu einer Ehe mit dem Hauslehrer ihres Bruders zu animieren. Der junge Mann scheint auch interessiert – doch Gertrude …? Der jüngere Bruder gilt im Hause Wentworth als Liederjan – er ist wegen Trunkenheit relegiert worden – quel horreur! Felix und Eugenia staunen – das soll ein Liederjan sein? Die kesse Cousine Lizzie Acton, ein sehr junges Mädchen, soll später mal seine Frau werden. Ihr Bruder Robert gilt als Mann von Welt, da er schon nach China kam und dort nicht nur Reichtum, sondern auch Weltläufigkeit erwarb.

Die Spannungen unter den jungen Leuten sind vielfach verflochten und verworren – und Felix bemüht sich redlich, Licht in die dunklen Ecken zu bringen. Nicht immer zur Freude der Betroffenen.

Am Ende gibt es Happy Endings – teils unerwartete. Und ob das letztgenannte davon eins ist?

Ach ja, Eugenia reist am Ende, weiterhin morganatisch verehelicht, nach Europa zurück.

Wie erzählt Henry James?

Unterhaltsam – und pointiert. Um Mr. Wentworth, den Vater von Charlotte, Gertrude und ihrem Bruder, zu charakterisieren, möchte ich zwei Sätze zu ihm zitieren – die gleichzeitig deutlich machen, wie Henry James arbeitet. Auf die Bemerkung von Gertrude, Eugenia sei die Frau eines Fürsten:

„Hierzulande sind wir alle Fürsten,“ antwortete Mr. Wentworth, „und ich wüsste nicht, dass es in der näheren Umgebung einen Palast zu mieten gäbe.“ (S. 60)

Ganz der würdige Patriarch im Boston der 40er des 19. Jahrhunderts, nicht wahr? Und durchaus spitz.

Ein bisschen weiter vorher sieht das anders aus. Das Wort „morganatisch“ ist allen Verwandten Eugenias fremd.

Das seltsame Wort „morganatisch“ hatte ihm unablässig in den Ohren geklungen, es erinnerte ihn an eine gewisse Mrs. Morgan, die er einmal kennengelernt hatte und die eine dreiste, unangenehme Frau gewesen war. (S. 46)

1850s BostonCommon ARTIC
Boston Commons, der Park in boston schlechthin – in seiner Nähe lebt Robert Acton. Artist unknown, 1850s BostonCommon ARTIC, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Die von Felix so bewunderte Einfachheit und Klarheit der Verwandten nimmt Henry James hier auf die Schippe – wirkt Mr. Wentworth hier nicht ein bisschen zu einfach? So macht Henry James den kulturellen Unterschied zwischen alter und neuer Welt drastisch deutlich.

Zu den Besonderheiten seines Stils gehört zweierlei:

  • Er beschreibt die Personen auch in ihrem Äußeren sehr genau – und rücksichtslos. Jede der Figuren hat ihre Mängel – und sei es bei Gertrude „nur“ das matte Auge.
  • Der Erzähler des Ganzen meldet sich immer wieder selbst zu Wort und kommentiert, bezieht sein Publikum mit ein.

Dialoge sind das, was die Handlung vorantreibt – einsame Gedanken werden selten entfaltet, bzw. der Erzähler stellt dann Vermutungen an, die er auch als solche markiert.

Ein lesenswerter Klassiker.

Die Neuübersetzung von Andrea Ott erschien zum 100. Todestag des Autors hübsch aufgemacht im Manesse-Verlag.

Ich habe einen Kritikpunkt vorzubringen: Den Anhang. Ja, vielleicht bin ich da inkonsequent, denn die Anmerkungen bei den Jane-Austen-Romanen von Christian Grawe im Reclam-Verlag habe ich immer als hilfreich empfunden; doch die Anmerkungen hier erscheinen mir großenteils obsolet. Vor allem, wenn es sich um Übersetzungen winziger französischer Sprachschnipsel dreht, mit denen Felix und Eugenia ihre Rede garnieren. Auch einige der Sachinformationen – zur Barouche oder zur Tageszeitung Bostons – bringen mir fürs Verständnis nicht wirklich was. Aber das ist meine persönliche Sicht – ich kann Französisch, und weiß auch, was eine Barouche ist 😉

Henry James: Die Europäer, übersetzt von Andrea Ott, Manesse Verlag, Zürich, 2015, ISBN: 9783717523888

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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