Statt eines Vorworts bietet Norman Ohler seinen Leserinnen eine „Packungsbeilage“, die genau zu lesen sich empfiehlt, denn hier macht er gleich zu Beginn deutlich, wie sein Buch einzuschätzen ist:
Was hier präsentiert wird, ist eine unkonventionelle, verzerrte Perspektive, und die Hoffnung liegt darin, in der Verzerrung manches klarer zu erkennen. Die deutsche Geschichte wird nicht um- oder gar neu geschrieben. (S. 13f)
Worum geht es? Norman Ohler schildert, wie er über den Tageskalender von Theo Morell auf sein Thema stieß, denn darin wird, so interpretiert es Ohler, dokumentiert, welche Drogen in welcher Kombination und Häufigkeit dieser Arzt seinem Patienten A. verabreichte – dieser Patient A. ist Adolf Hitler.
In reportagehafter Manier beginnt Norman Ohler mit einer Beschreibung des heute in Ruinen befindlichen Pharmaziebetriebs Temmler-Werke in Berlin, in dem „Pervitin“ hergestellt wurde. Das ist der damals gängige Handelsname für Methamphetamin, heute unter anderem als „Speed“ oder „Crystal Meth“ berüchtigt. Die angsthemmende, zumindest zuerst konzentrationsfördernde Wirkung dieser Substanz wurde im zweiten Weltkrieg anfangs unbedenklich, später etwas geringer dosiert, Soldaten aller Kampfeinheiten verabreicht – das Heer der Nazis stand also unter Drogen, als es die Blitzkriegsattacken gewann – so Norman Ohler.
Nun sind die Erkenntnisse von Norman Ohler nicht ganz neu. Bereits am 30.11.2011 erschien in der taz ein Beitrag zu diesem Thema; auch der Drogenkonsum Hitlers und seiner Führungsriege sind dort schon thematisiert.
Was Norman Ohler nun macht: Er schreibt eine durchgehende Geschichte des Drogenkonsums – einschließlich Goethe, der wie die meisten seiner Zeitgenossen Laudanum einnahm -, schildert die Entwicklung der chemischen Prozesse im Fabrikmaßstab in Deutschland und lässt so eine ganze Kette von Ereignissen und Entwicklungen logisch aufeinander folgen.
Auch dem Drogenkonsum Hitlers geht er minutiös nach. Dazu nutzt er neben dem Tageskalender besagten Theo Morells auch andere Quellen: Tagebuchaufzeichnungen, Briefe etc. Fast schon liebevoll detailliert schildert er, wie er sich die Szenen zwischen Hitler und seinem Arzt vorstellt – und das ist der Punkt: Wir wissen es nicht. Es ist seine Vorstellung. Da tut es vor dem Ärgern gut, sich den eingangs zitierten Satz aus der „Packungsbeilage“ ins Gedächntnis zu rufen 😉
Schwieriger als diese Spekulationen finde ich den häufigen Bezug auf das nach Ohlers Worten einzige Buch, das sich dem Thema bereits gestellt hat: „Nazis on Speed“ von Werner Pieper. Und nein, ich verlinke nicht auf dessen Seiten, denn mir erscheint ein Mann suspekt, der eine Rechtshilfe für Dealer ins Leben rief und selbst als Dealer bekannt und aktiv war.
Norman Ohler schreibt suggestiv und durchaus spannend; wer also eine durchgehende Darstellung zum Thema Drogenkonsum im dritten Reich lesen will, ist hier sicher nicht verkehrt – aber bitte immer den oben zitierten Satz im Hinterkopf behalten, ja?
Norman Ohler: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reiche, Kiepenheur & Witsch, Köln, 2015, ISBN: 9783462047332
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