Ein stillgelegter Friedhof mitten in Paris – das ist der Aufgabenbereich des jungen Ingenieurs Jean-Baptiste Barrate. Nicht unbedingt das, was er sich gewünscht hat. Friedhof und Kirche Les Innocents sollen beseitigt werden. Während der Pest seien da in einem Monat mehr als 50.000 Leichen verscharrt worden, erläutert der Minister in Versailles. Der Geruch sei abscheulich – das ganze Viertel dünste diesen Verwesungsgeruch aus. Eine Wohnung wurde schon für ihn angemietet – ganz in der Nähe. Er bekommt Geld, um die Aufgabe zu bewältigen. Als Jean-Baptiste an seine Wirkungsstätte kommt, muss er sich erst einmal mit den Gegebenheiten vertraut machen. Er lernt seine Vermieterfamilie kennen – Tochter Ziguette, Mutter und Vater Monnard sowie das Dienstmädchen Marie -, den Organisten Armand, der auf der stummen Orgel in Les Innocents übt, den alten Küster Manetti und seine Enkelin Jeanne. Diese bezeichnet Jean-Baptiste die vielen Massengräber auf dem ungepflegten Friedhof. Jean-Baptiste vermisst und berechnet. Dann überlegt er, wie er die Aufgabe bewältigen kann. Er hat mal in den Bergwerken von Valencienne gearbeitet – sein ehemaliger Kollege dort, sein Freund Lecoeur, sichert ihm zu, dreißig Arbeiter nach Paris zu begleiten. Die Arbeit beginnt. Feuer brennen auf dem Friedhof, um den Gestank zu übertünchen. Die Arbeiter bekommen auf ihren Wunsch Tabakspfeifen, um direkt während der Graberei einen anderen Geruch in die Nase bekommen zu können. Der Organist Armand mit seiner Lebenspartnerin hilft. Die beiden Ärzte, die aus wissenschaftlicher Neugier dabei sind, machen sich im Laufe der Zeit bei verschiedenen Unfällen nützlich. Als besonders freundlich erweist sich dabei der mit dem Namen Guillotin …
Ja, und damit wären wir beim Überbau. Die Räumung des Friedhofs findet statt in der Zeit von Oktober 1785 bis Oktober 1786. In vielen Einzelheiten wird die vorrevolutionäre Stimmung in Paris spürbar. Armand, der Organist beteiligt sich mit seinen Freunden an nächtlichen Schmierereien, die dann immer häufiger werden. Barrate und Lecoeur haben vor ein paar Jahren ein ideales Valenciana erdacht – einen Utopiestaat, in dem alles auf beste geregelt ist. Barrates Mutter gehört einer protestantischen Konfession an. Insgesamt ist der Respekt vor der katholischen Kirche bei weitem nicht so entwickelt, wie man es aus der Rückschau vermuten würde – sowohl Barrate selber als auch die Bergarbeiter oder Armand orientieren sich an anderen Werten. Vernunft wird groß geschrieben. Und dann ist da noch der Elefant, von dem der Minister ihm am Anfang erzählt – ein Geschenk an den König, das vor Angst, dass die Hunde des Palastes es töten könnten, unterirdisch gefangen gehalten wird. Er ist das Symbol für das kaputte Herrschaftssystem.
Andrew Miller hat sich auf ein Ereignis bezogen, das es tatsächlich gab und hat es mit sprachlicher Brillanz und einem komplexen Beziehungsgeflecht von Personen und Ereignissen und politischen Vorstellungen zu einem spannenden Roman verdichtet. Und keine Angst vor den Leichen oder ihrem Geruch – ähnlich wie Barrate gewöhnt man sich daran 😉
Andrew Miller. Der Friedhof der Unschuldigen, übersetzt von Nikolaus Stingl, Paul Zsolny- Verlag, Wien, 2013, ISBN: 9783552056442
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