Das Zeitalter der Erschöpfung von Wolfgang Martynkewicz

Das Zeitalter der Erschöpfung von Wolfgang Martynkewicz

Erschöpfung heißt heute Burnout und ist in aller Munde. Ratgeberbücher füllen Regalmeter, Kurse zur Entschleunigung boomen. Das Hier und Jetzt ist das Zeitalter der Erschöpfung – oder? Wolfgang Martynkewicz nimmt in seinem Buch aber nicht das frühe 21. sondern das frühe 20. Jahrhundert (mit Teilen des späten 19.) in den Blick. Damals hieß es nicht Burnout sondern Neurasthenie. Da im 19. Jahrhundert gerade der tätige, sportliche, strebsame Mensch zum Ideal geworden war, war alles, was dieser Norm nicht entsprach therapiebedürftig. Kaum zu glauben, aber schon Otto von Bismarck, die Verkörperung von Durchsetzungskraft und Entschiedenheit, hatte mit geistiger Erschöpfung, ja Weinkrämpfen zu kämpfen. Und das nicht erst nach seiner Entmachtung durch den jungen Kaiser Wilhelm II. Hilfe erhoffte er sich von Ernst Schweninger, einem jungen Arzt aus Bayern, der mit Naturheilverfahren arbeitete.  Das hieß für Bismarck, seine Lebensgewohnheiten umzustellen, v. a. seine ungeheure Esslust.

Otto von Bismarck auf einem Spaziergang mit seinem Leibarzt Dr. Schweninger
Otto von Bismarck auf einem Spaziergang mit seinem Leibarzt Dr. Schweninger

Deshalb wurde Schweninger auch verspottet – außer Abmagerung brächte er nichts zuwege. Nichtsdestoweniger war er einer der angesagten Modeärzte seiner Zeit, denn der Erfolg gab ihm recht: Bismarck z. B. wirkte nach der Kur mit Schweninger, der Bismarck zeitweise  überallhin begleitete, deutlich erholt. Bismarcks Frau berichtete ihm während seiner Abweseneheiten sehr genau über Befinden und Ernährung ihres mannes. Da kommen dann auch Streitigkeiten zwischen den Eheleuten zur Sprache, z. B. ob Linsen nun erlaubt sind oder nicht.

So wie bei Bismarck geht Wolfgang Martynkewicz auch bei anderen Personen vor: Friedrich, Nietzsche, Cosima Wagner, Max Weber. Er schildert ihre Beschwerden, ordnet sie in den jeweiligen Lebenszusammenhang ein und beschreibt dann die Hilfsmittel, mit denen sie der Neurasthenie Herr werden wollen. Das ist nicht nur ein Einblick in die jeweilige Biographie, sondern genauso in den Zeitgeist – was wird als „normal“ empfunden“ und was nicht. Welche Versuche werden unternommen – u. a. mit Kokain! -, um Menschen leistungsfähiger zu machen.

Die Kapitelüberschriften klingen sicher nicht ohne Absicht wie heutige Ratgbertexte:

  • Die große Gesundheit
  • Die Optimierung des Menschen

Ob über unser Verständnis von „normal“ oder „besser“ in Sachen Gesundheit unsere Nachfahren auch mal so den Kopf schütteln werden, wie wir über die Versuche mit Kokain, die Soldaten zu Höchstleistungen trieben?

Rainer Maria Rilke, 1900
Rainer Maria Rilke um 1900. Gegen seine Erschöpfungszustände ging er immer wieder aufs Neue an – sein Ideal blieb ihm aber unerreichbar
Die Norm des aktiven, arbeitenden Menschen war eine Herausforderung für Menschen wie Rainer Maria Rilke oder Franz Kafka, die ihrer eigenen Sensibilität dann entgegenarbeiten … Irgendwie tragisch, oder?

Wolfgang Martynkewicz bietet in seinem Buch einen ausführlichen EInblick in Haltungen und Auswüchse, die Anfang des 20. Jahrhunderts die „Erschöpfung“ oder „Neurasthenie“ bzw. deren Bewältigung begleiteten. Und nein, eine Conclusio ist nicht zu entdecken. Finde ich nicht so schlimm, denn die Einzelinformationen an sich sind spannend genug. Der immer präsente Vergleich mit dem Heute ist auch nicht ohne 😉 Wenn Wolfgang Martynkewicz erzählt, ist das Buch angenehm flüssig zu lesen. Den theoretischen Abhandlungen muss man ein bisschen mehr Aufmerksamkeit widmen. Ich finde, es lohnt sich.

Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne, Aufbau Verlag, Berlin, 2013, ISBN: 9783351035471

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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