Na, da hat mir der Bücherschrank ja was zum Erinnern vor die Füße gelegt: Das Buch von Edith Bergner hatte ich damals auch! Ich habe eine Reihe Kinderbücher aus der DDR gehabt. Mit diesem hier hatte ich so meine Schwierigkeiten. Deshalb wollte ich jetzt noch mal reingucken.
Was erzählt Edith Bergner?
Jella lebt mit ihrer Familie in einem Dorf. Wahrscheinlich spielt die Handlung zu Beginn der 70er Jahre; das Buch erschien erstmals 1974. Die Mutter von Jella arbeitet in der LPG, der Vater im Chemikombinat. Und nun sollen sie wegziehen. In eine neue Stadt. „Neu“ nicht nur für sie – eine Stadt, im Entstehen. Lauer Neubauten. Die Wohnungen und Häuser mit Nummern versehen. Alles ganz anders. Und es wird toll, da sind sich Vater und Tochter einig. Die Mutter ist da nicht so sicher.
Das Leben in der Stadt ist erwartungsgemäß anders. Und Jella hat Probleme, sich reinzufinden. Sie flieht, als es ihr alles zu schwer wird, in ihr Dorf. Und muss feststellen: Auch dort ist die Zeit nicht stehengeblieben – es gibt dort keine Lücke mehr, die sie hinterlassen hat.
Das ist die eine Ebene – eine normale Geschichte um ein Kind, das neue Wurzeln finden muss.
Die andere Ebene ist die der Gesellschaft, in der Jella lebt.
Welche Gesellschaft beschreibt Edith Bergner?
„Eine sozialistische“ – auch wenn es um Jella geht, wird gegen Ende klar: Edith Bergner schildert keine Individuationsgeschichte, sondern eine der Anpassung.
Neben diesem Aspekt ist etwas anderes noch klarer: Die Gesellschaft, in der Jella lebt, ist die bestmögliche: fortschrittlich und gerecht. Der Tenor klingt immer wieder durch. Und wenn es Jella micht so erscheint? Dann liegt es an ihr oder auch an anderen Individuen; aber niemals an einer Gesellschaft, die für ihre Neubauten ganze Raumzellen aus „Plast“ herstellen kann. Re-vo-lu-tio-när!
Das ist so eine Szene: Ein ganzes Badezimmer hängt am Kran und wird an seinen Platz bugsiert. Die große Vision: Ganze Wohnungen können so vorfabriziert werden, mit allem, was man so braucht.
Kein Wunder, dass ich das als Kind nicht mochte. Ich finde die Vorstellung auch heute noch erschreckend.
Diese ideologische Ebene habe ich offensichtlich gespürt. Ob Kinder, die in der DDR sozialisiert wurden, das auch so gespürt haben? Oder hätten sie bei Büchern aus dem Westen gedacht „Wie schrecklich ist das denn – jede für sich allein und kein gemeinsames Ziel!“? Ich muss allerdings sagen, dass Bücher mit „Ideologie“ oder „Thema“ mir meist suspekt waren – das galt auch für Bücher wie „Rolltreppe abwärts“ oder „Die Wolke“. Ich wollte schließlich lesen, um was Schöne szu erleben. Deshalb habe ich andere Bücher aus der DDR viel mehr geliebt – die wunderbaren Märchenbücher vor allem.
Übrigens „beschönigt“ Edith Bergner gewisse Aspekte auch nicht: Über dem Kombinat hängt immer ein gelblicher Schleier in der Luft. Nur die Wahrnehmung hat sich verändert: Im Buch ist das ein Zeichen der Hoffnung, ich sehe darin die Beschreibung einer Umweltverschmutzung …
Gerade nach der Lektüre von „Gertrude grenzenlos“ war mir diese Wiederaufnahme einer Kindheitslektüre wichtig.
Edith Bergner: Das Mädchen im roten Pullover, Der Kinderbuchverlag, Berlin, 1974, ISBN: 3358004430
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