Der Frage ob sie Deutsche oder Italienerin sei, kann Lilli Gruber entspannt mit „Ich bin Europäerin“ begegnen. Dann fügt sie hinzu, dass sie Südtirolerin sei. Und diesem Familienerbe geht sie in ihrem Buch „Das Erbe“ nach.
Zentrale Figur ist ihre Urgroßmutter Rosa Rizzolli, geb. Tiefenthaler. 1877 geboren erlebte sie den Untergang der ihr vertrauten Welt mit: Das Ende des Ersten Weltkriegs bedeutete die Abtrennung Südtirols von Österreich. Das Kaiserreich, in dem sie großgeworden war, hatte zu existieren aufgehört.
Grundlage für Lillie Gruber ist das Tagebuch, das Rosa geführt hat. Immer wieder zitiert sie Einträge, die ihre fromme Ahnfrau dort notiert hat. Ihr dort geäußertes Gottvertrauen und die Vermeidung politischer Themen – besonders nach 1918 – ergänzt die Journalistin Gruber mit detailreichem Sachwissen. Auch ihre eigenen Erinnerungen und Erfahrungen finden hier Eingang. So entwickelt sich die Geschichte auf verschiedenen Ebenen:
- Romanhaft die Schilderung von Rosas Leben – ihre Herkunft, ihre erkämpfte Heirat mit einem ärmeren Mann, die Entwicklung ihrer Familie
- Dazwischen sachliche Einschübe zum historischen Geschehen
- Dann wieder Erinnerungen von Lilli Gruber an ihre Großeltern oder an ihre eigenen Erfahrungen mit dem Sonderstatus von Südtirol.
- Dazu zählen dann auch Ausblicke auf aktuellere politische Entwicklungen
Besonders spannend finde ich, dass hier historische Ereignisse aus dem Blickwinkel einer sonst nicht im Fokus stehenden Minderheit betrachtet werden. Z. B. wie der Erste Weltkrieg in Südtirol erlebt wurde. Die zeitgenössischen Aussagen im Tagebuch bringen das Denken und Fühlen einer vergangenen Epoche näher. Da hätte ich manchmal gern noch mehr gelesen. Anrührend z. B. das Testament der 45-jährigen Rosa (sie starb mit 63 Jahren).
Es entsteht das Bild einer starken Frau, die sich gebunden weiß in Regeln ihrer Herkunft, aber immer bereit ist, diese Grenzen zu überschreiten, wenn es not tut. Für ihr eigenes Glück hat sie ihren Vater überredet, ihrer Hochzeit mit Jakob Rizzolli zuzustimmen. Nach dem Tod des Vaters entscheidet sie mit einer ihrer Schwestern über das väterliche Erbe – das wäre für ihren Vater undenkbar gewesen. Aber da er ohne Testament starb … In politisch schwierigen Zeiten entscheidet sie sich für ihre Heimat und geht damit auch Risiken ein – heimlicher Unterricht in deutscher Sprache z. B., als von italienischer Seite her alles versucht wurde, diesen Teil des Landes zu italianisieren und deutsch zu sprechen unter Strafe stand.
Im Buch und auf der Rückseite des Schutzumschlags ist ein Portrait von Rosa Rizzolli zu sehen, das mich sehr beeindruckt – das sehe ich kein frommes Mütterchen, wie man es nach manchen ihrer Tagebucheintragungen vermuten könnte, sondern eine modern Frau, die sich ihrer Rolle bewusst ist. Ich kann Lilli Grubers Faszination für diese Frau nachvollziehen. Das Buch ist zwar auch eine Biographie aber eben nicht nur – die Geschichte einer Familie und ihrer Regionin einer Umbruchszeit, exemplarisch dargestellt an einer Frau.
Lilli Gruber: Das Erbe. Die Geschichte meiner Südtiroler Familie, übersetzt von Franziska Kristen, Droemer, München 2013, ISBN: 9783426276211
Ann-Bettina Schmitz
5. November 2013 at 10:44Das klingt echt interessant, nach Geschichte zum „Anfassen“. Diese Rosa scheint eine beeindruckende, ihrer Zeit weit voraus lebende, Frau gewesen zu sein.
Heike Baller
5. November 2013 at 10:56Ja, war sie auch. Und eben eine Zeitgenossin, die treu zu Gott und Kaiser steht – das klingt dann schon fremd heutzutage.