„Eine der schönsten Kindheitserinnerungen in der Literatur“ steht hinten auf dem Buch mit den hübschen Blumen auf dem Leinencover. Es handelt sich um die Kindheitserinnerungen von Laurie Lee. Ehrlich gesagt, so eine Kindheit möchte ich nicht erlebt haben und wünsche sie weder meine Kinder noch meinen Enkeln. Wieso steht dann dieser Satz auf dem Cover? Und warum habe ich dann das Buch mit großer Begeisterung gelesen?
Laurie Lee beschreibt sein Leben auf dem Land in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts – zu Beginn ist er drei Jahre alt. Das Haus, in das er mit drei Schwestern, zwei Brüdern und der Mutter einzieht, ist alt, feucht, verfallen – und hat einen großen Garten. Auch der ist alles andere als gepflegt. 1919 ist an Elektrizität, fließendes Wasser und andere Annehmlichkeiten natürlich nicht zu denken. Aber Laurie Lee und seine Familie kennen es nicht anders. Sie sind in der Lage, sich über die reifen Johannisbeeren im Garten, über den Gemeindeausflug im Bus (o. k., das kommt erst Jahre später) und über die Kostüme und Darstellungen beim Pfarrfest zu freuen. Doch was Laurie Lee da so über die Lebensumstände der Familie und dem Dorf allgemein erzählt – das ist von Armut, Dreck, Gewalt und viel Tod gekennzeichnet. Doch wie er das erzählt!
Die Blumen auf dem Cover mögen die ländliche Umgebung widerspiegeln, ja, sie greifen quasi gleich die erste Szene des Buches auf, doch sie stehen auch für die bildkräftige, manchmal etwas blumige Sprache von Laurie Lee. Er schildert mit allen Einzelheiten, wie es sich anfühlt, auf einer sommerlichen Wiese im Gras zu liegen. Auch, wie sich immer wiederkehrende Fieberschübe für einen kleinen Jungen anfühlen.
Die Kinder in diesem Dorf haben alles, was das Leben ausmacht, miterlebt. Dazu gehören Sex und Gewalt, Selbstmord und langes Siechtum. Daneben stehen die Naturschilderungen von Laurie Lee, poetisch und detailliert – solche Sommer würde ich auch gern mal erleben.
Ein paar Beispiele für den Stil von Laurie Lee will ich Ihnen nicht vorenthalten:
Die Ernte verschiedener Jahreszeiten gärte dort in Granny Wallons Küche, ganze Sommer wurden zum Kochen gebracht, rings auf dem Steinboden häuften sich die schlaffen Blütenköpfe und bargen ihre eingetrockneten Säfte – da war der würzige Honig der Primel, dann der kupfrig riechende Löwenzahn, der Mohn mit seinem bitteren Puderduft, der graugrüne Holunder mit seinem Katzengeruch. (S. 101)
An der Decke des Schlafzimmers hatte ich mit geschlossenen Augen ein Flecken Sonnenlicht wahrgenommen, der sich immer mehr ausbreitete. Das war der Widerschein des Sees, der von der rasch aufgehenden Sonne durch die Bäume geworfen wurde. Schlaftrunken sah ich an der Decke über mir sein glitzerndes Spiegelbild, jedes Kräuseln seiner schläfrigen Wellen und die Projektionen von Leben darauf. […] Dann plötzlich zerbrach das Bild in Stücke, zerfiel wie ein schmelzender Spiegel zu zittrigen Goldsplittern, die wild durcheinanderschaukelten. Ich hörte das laute Flattern von Schwingen auf dem Wasser, das zu einem Crescendo anschwoll, während die Schatten der über dem Dach aufsteigenden Schwäne im schweren Morgendunst verschwanden. (S. 197)
Das Buch von Laurie Lee erschien bereits 1959. Der Unionsverlag hat es nun in einer neuen Übersetzung und mit Aquarellen von Laura Stoddart herausgegeben.
Laurie Lee: Cider mit Rosie, übersetzt von Pociao und Walter Hartmann, mit Aquarellen von Laura Stoddart, Unionsverlag, Zürcich, 2018, ISBN: 9783293005327
monerl
12. April 2018 at 13:33Dieses Buch steht schon auf meiner Wunschliste! Der Unionsverlag gehört zu meinen Lieblingsverlagen und ich finde, ihm ist eine wunderschöne Ausgabe gelungen. Ich freue mich schon sehr aufs Lesen. Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat und du mich an das Buch erinnert hast. 🙂
GlG, monerl
Heike Baller
15. April 2018 at 18:51Bin erst hetue dazu gekommen, mal nachzuschauen: Das ist mein erstes Buch aus dem Unionsverlag im Blog …
Ich werde mal drauf achten. Danke für den Tipp, Monerl.
Liebe Grüße
Heike