- In ihrem Buch über Geschwister geht Susann Sitzler auf Lebensweisen ein, die ich äußerst befremdlich finde, z. B. das Flirten von Eltern mit den Freundinnen resp. Freunden ihrer jugendlichen oder erwachsenen Kinder. Für das Buch „Es bringen“ von Verena Güntner hat mir der Absatz in „Geschwister“ aber einen echten Erkenntnisgewinn gebracht, weil Luis ja gerade durch ein solches Verhalten seiner Mutter in eine Krise gerät. Dass Luis trotz seiner unbedingten Zuneigung und Loyalität gegenüber seiner Mutter ein ziemlich verlassses und
einsames Kind *räusper* ist, ist ja mit Händen zu greifen.
Dass die eigene Mutter was mit dem Freund eines Jugendlichen „hat“, ist eine seelische Verletzung, die mir – und sicher auch Ihnen – unmittelbar einleuchtet.
Durch die Darstellung von Susann Sitzler wurde mir aber die Tiefendimension dieser Verletzung so richtig „verständlich“ – ich habe das danach nicht einfach so im Gefühl, sondern kann es wirklich verstehen.
Kindheit ist die gefährlichste Epoche im Leben eines Menschen. Im Dampfkessel der Familie können die ärgsten Machtmissbräuche und Übergriffe geschehen. Gleichzeitig nimmt man fast alle Erfahrungen ungefiltert auf und betrachtet sie als Normalität. (Susann Sitzler: Geschwister, S. 246)
In der Auseinandersetzung mit „Brüder“ von Hilary Mantel kam eine Lektüreerkenntnis aus „Geschwister“ ebenfalls zur Geltung: Die Bindung zwischen Robespierre und Demoulins entspricht einer geschwisterlichen Beziehung, aufgrund der gemeinsamen Schulzeit – wer in der Kindheit Zeit miteinander beim Aufwachsen zubrachte, entwickelt eine geschwisterliche Basis, die auch trägt, wenn sich die Auffassungen auseinander entwickeln. So erklärt sich die Verrautheit der beiden für mich dann völlig schlüssig – auch wenn die gemeinsame Schulzeit in der Form ein Produkt von Hilary Mantels Phantasie ist.
Ein echtes Geschwisterpaar porträtiert Arthur Hochschild in seinem Buch über den ersten Weltkrieg mit dem im Deutschen so unpassenden Titel „Der Große Krieg. Der Untergang des alten Europa im ersten Weltkrieg“ – Bruder und Schwester (Sir John French und Charlotte Despard), die sich ein Leben lang politisch diametral gegenüber stehen, aber Bruder und Schwester bleiben, fürsorglich und liebevoll.
Kennen Sie das auch, dass gelesene Bücher sich in Ihnen gegenseitig befruchten und Ihre Lektüre sich untereinander beeinflusst? Ich finde es ein tolles Phänomen.
Irgendwann – wenn gerade mal nicht so viele Bücher auf dem Rezensionsstapel liegen -, befasse ich mich auch mal damit, wie Bücher „direkt“ miteinander sprechen. Versprochen.
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