Annette, ein Heldinnenepos von Anne Weber

Annette, ein Heldinnenepos von Anne Weber

Als dieses ungewöhnliche Buch – ein Heldinnenepos! – in dieser ungewöhnlichen Darreichungsform – in Versen … – rauskam und den Deutschen Buchpreis 2020 erhielt, war ich dafür noch nicht bereit. Aber jetzt!

Welche Heldin im Heldinnenepos?

Anne Weber erzählt die Lebensgeschichte von Anne Beaumanoir – ist sie eine Heldin?

Der erste Teil des Heldinnenepos

Anne Beaumanoir, genannt Annette, ist die Tochter kleiner Leute in der Bretagne – ihr Mutter ist Petite Marthe, Tochter einer Fischerfamilie, ihr Vater, Jean Beumanoir, hat sie gegen den Willen seiner Mutter geheiratet – da war Annette schon auf der Welt. Anne Weber beginnt das Heldinnenepos sehr unheldisch mit Geburt und Familiengschichte. Die kleine Annette lebt in einer glücklichen Familie. Doch in unglücklichen Zeiten. Frankreich wird von den Nazis besetzt – und unversehens sieht sich das junge Mädchen in den Wirren der Résistance. Reingeschliddert? Hm, da ist mehr dahinter.

Portrait s/w Annette Beaumanoir  - junges Mädchen mit dunklem Haar.
So sah Annette Beaumanoir wohl noch als Widerstandkämpeferin gegen die Nazis aus – ein junges Mädchen, das erst einmal nicht ernst genommen wurde. Das Bild ist von 1940 – kurz danach begann sie in der Résistance.

Doch erst einmal weiter: Annette verstößt gegen die Regeln derer, die in der Résistance mitarbeiten wollen, unternimmt eine Rettungsaktion auf eigene Faust. Sie verliert ihren Geliebten. Ihr Berufsziel: Medizin – damit hatte sie vor dem Krieg begonnen. Nun ist der zu Ende – sie kann ihr Studium beenden. Sie heiratet, bekommt Kinder. Das Ende des Heldinnenlebens?

Blöde Frage – natürlich nicht!

Der zweite Teil des Heldinnenepos

Sie kennt Algerien im Grunde nicht – war nur einmal zu Besuch da, in dem Teil Frankreich jenseits des Mittelmeeres. Doch dort gärt es. Die Menschen, die dort immer schon gelebt haben, wollen die loswerden, die ihnen seit Jahrzehnten europäische Gesetze, Gebräuche und Einstellungen vorturnen. Und sie haben recht – findet Annette. Sie schließt sich denen an, die den Widerstand gegen die Kolonisatoren wagen. Und landet im Knast. Sie kann fliehen, kommt nach Tunesien, um von dort den algerischen Widerstand zu unterstützen. Sie findet Freunde, sie findet einen Mann, sie findet eine Aufgabe – alles ist gut?

Nö.

Noch lange Jahre gilt sie in Frankreich als Terroristin – sie wurde ja auf 10 Jahre Gefängnis verurteilt. Sieht ihre Kinder nur bei seltenen Besuchen. Sie arbeitet bis ins Rentenalter in der Schweiz als Neurophysiologin. Nun lebt sie in Frankreich, in einem Ort namens Dieulefit – Gott hat es gemacht – und erzählt in Schulen von der Notwendigkeit des Ungehorsams in mancher Situation.

Ein Versepos? 2020?

Zugegeben, es gibt Passagen im Buch, in denen ich den Anspruch des Textes, in Versen geschrieben zu sein, vergessen habe, denn mich hat der Inhalt gefesselt; gerade die Geschichten rund um den Algerienkrieg kannte ich bisher nur sehr sehr bröckelweise.

Und dann gibt es Passagen, in denen die Versform mich packt – die Sprache von Anne Weber ist vielseitig, variantenreich und angemessen. Ich habe so viele Merkzettelchen ins Buch geklebt, lauter Stellen, an denen mich die Formulierungskunst gepackt hat …

Ein paar Beispiele – die Schrägstriche zeigen den Zeilenumbruch an:

… Überhaupt neigt der / Zweck dazu, sich zuungunsten der Mittel aufzuplustern.

S. 60

Trockene Kommentare sind eine Spezialität des Textes – und es ist nicht immer klar, ob sie nun die Gedanken von Annette oder von Anne spiegeln; v. a. wenn man bedenkt, dass Annette ja auch auch Anne heißt …

… Wer das Herz / auf dem rechten Fleck, also zum Beispiel nicht in / der Hose hat, dem gerät auch der Kopf, so leer er / auch sein mag, nicht so schnell aus der rechten Bahn.

S.70

Das ist ein Kommentar über Annette …

… Untersuchungen, Experten, Ärzte. Letztere / sind zwar vom Gericht bestimmt, aber in einem Krankenhaus / gibt es auch welche, die und deren Gesinnung es / nicht sind.

S. 138

Ich mag diese Art sehr!

Was für ein Buch ist also dieses Heldinnenerpos? Ich fand es wirklich beeindruckend. Anne Weber nähert sich ihrer Heldin, die sie auf einer Podiumsdiskussion kennenlernte, mit Respekt und Kritik in wohl abgewogener Mischung. Sie schafft eine Atmosphäre, in der ich der Entwicklung des jungen Mädchens bis zur nicht mehr ganz so jungen Frau (1965 ist ihr Algerien-Abenteuer zu Ende – da ist gerade mal 42 Jahre alt!) folgen und ihren Erfahrungen und Empfindungen nachspüren kann. Anne Weber ist nie unkritisch nahe dran, aber sehr nahe.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos, Matthes und Seitz, Berlin, 2020, ISBN: 9783957578457

Es gibt für die, die Französisch können, eine spannende Site im WWW – eine Dokumentation zu den einzelnen Abschnitten in Anne Beaumanois Leben. Sie kommt auch selber zu Wort – eine beeindruckende Persönlichkeit, selbst auf dem kleinen Bildschirm eines Laptops …

Die Stadtbibliothek Köln hat das Buch, das Hörbuch und das E-Book im Bestand.

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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