28 Tage lang von David Safier

28 Tage lang von David Safier

Das Grauen beginnt vorher – wahrscheinlich, damit man sich als Leserin dran gewöhnen kann: Ein Jahr vor dem Aufstand im Warschauer Ghetto wird die Jüdin Mira auf einem ihrer Schmuggelgänge außerhalb des Ghettos von ein paar polnischen „Schmalzowniks“ angehalten – als Jüdin verdächtigt, ist ihr Leben keinen Groschen mehr wert. Rettung naht in Gestalt eines blonden, blauäugigen Jungen, der sie Lenka nennt und küsst. Sie erwidert den Kuss, nennt ihn Stefan – die Bluthunde lassen ab.

Der Alltag im Ghetto ist erschreckend armselig – aber noch erträglich. Doch der Händler, der Miras Schmuggelware entgegen nimmt, gibt ihr mehr als sonst – er hat Gerüchte gehört, dass bald das Ende des Ghettos droht.

Stück für Stück gleitet Mira in den Schrecken der Judenvernichtung – sie sieht, wie der verrückte Rubinstein mit seinem irren Singsang seinen Lebensunterhalt erpresst, sie verachtet ihren Bruder, der sich der Judenpolizei angeschlosssen hat. Sie will ihre kleine Schwester Hannah beschützen. Die Mutter liegt seit dem Selbstmord des Vaters nur noch apathisch in ihrer Ecke des Zimmers. Ihre Freundin Ruth „arbeitet“ im Bordell. Ihr Freund Daniel lebt im Waisenhaus von Janusz Korczak, der sich weigert, „seine“ Kinder zurückzulassen, wenn nur er von Anhängern gerrettet werden kann – und Daniel liebt und verehrt ihn rückhaltlos. Mira ist eine normale Sechzehnjährige – sie träumt von Reisen, von Kinobesuchen. Sie will Englisch lernen. Aber das darf alles nicht sein.

Mira, Hannah und Daniel sind Jugendliche in einer schrecklichen Zeit und David Safier führt seine Leser in diese Zeit hinein. Behutsam, aber ohne zu beschönigen legt er den Pfad – und mit dem einen oder anderen Zeichen von Menschlichkeit in der unmenschlichen Umgebung macht er das Unerträgliche lesbar. Mir ging es streckenweise wie nach der ersten Lektüre von Anne  Franks Tagebuch – so nah kommt mir die Geschichte.

Stroop Report - Warsaw Ghetto Uprising 13
Mit Waffen aufgegriffene Frauen im Warschauer Ghetto – ein Schicksal, das auch Mira droht.
Kurz vor dem Aufstand lebt nur noch jeder neunte derer, die vorher im Ghetto waren. Sie wissen, was das heißt, nicht wahr? Ich wusste es auch und habe allen meinen Mut zusammengenommen, um mich dem Schicksal vieler liebgewonnener Figuren zu stellen. Es geht. Mira landet bei den Aufständischen. „28 Tage lang“ können sie den Deutschen widerstehen.

Eine Frage, die im Buch immer wieder gestellt wird lautet „Was für ein Mensch willst Du sein?“ – und alle im Buch beantworten diese Frage auf ihre Weise. Z. B. die Frau, die Mira ihr Baby in den Arm legt, weil die Marke zum Überleben nur für sie und nicht für ihr Kind ist. Oder der Hehler, der Miras Schmuggelware entgegennimmt. Oder Miras Bruder Simon, der Judenpolizist.

David Safier erklärt in einem Gespräch mit Michael Töteberg, das am Ende des Buches in Auszügen abgedruckt ist, was ihn zu der Geschichte bewogen hat und warum er eine fiktive Figur genommen hat, obwohl es viele belegte Geschichten aus dem Ghetto gibt. So kann MIra alle Facetten des Schreckens erleben – und sei es, dass ihre Freundin Ruth ihr von Treblinka berichtet …

David Safier hat ein dichtes Buch geschaffen eins, das wirklich mitnimmt – in beiderlei Sinne des Wortes. Und wieder einmal bewiesen, dass er völlig überzeugend aus der Prespektive von Frauen schreiben kann – ein Phänomen, das mich schon bei seinen heiteren Büchen sehr beeindruckt hat.

Dass das geschilderte Grauen „lesbar“ bleibt, liegt auch daran, dass sich Mira, aus deren Perspektive Daid Safier erzählt, immer noch in so einer gepflegter Schriftsprache ausdrückt: Sie kotzt sich zwar die Seele aus dem Leib – aber sie spricht von „spucken“ oder „mich erbrechen“ … Mit dieser Sprache schafft der Autor eine unmerkliche Distanz zum Geschehen.

Das Buch ist sowohl bei Kindler als auch bei rororo Rotfuchs erschienen.

David Safier: 28 Tage lang, rororo rotfuchs, Reinbeck 2014, ISBN: 9783499211744 / Kindler, Reinbek 2014, ISBN, 9783463406404

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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