Von der Neujahrsnacht 1919 bis zur Silvesternacht 1919 reicht dieses Jahr, das Unda Hörner an der Seite verschiedener Frauen vorüberziehen lässt. Ganz klar chronologisch, von Januar bis Dezember. Die Frauen, die sie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs porträtiert, kommen aus sehr unterschiedlichen Bereichen; da gibt es die Muse, die politische Aktivistin, die Dichterin, die Physikerin, die Dadaistin, die Bücherfrau, die Tänzerin und die Modeschöpferin. Ich hab da bestimmt die eine oder andere vergessen ?
Wie erzählt Unda Hörner?
Sie geht jeweils in die Situation hinein, die sie schildern möchte; es ist also eine eher belletristische Herangehensweise. Neben den für 1919 aktuellen Erfolgen oder Misserfolgen der einzelnen greift sie immer wieder in deren Geschichte zurück, um ihren Standpunkt zu erläutern oder ihre Erfahrungen zu beleuchten. Und da gibt es einiges zu entdecken:
- Wie lebte ein Frauenpaar, das zwischen politischem Engagement und Landwirtschaft pendelte, ein Mustergut führte?
- Wie erlebte die sozial engagierte Bildhauerin die Aufbruchsstimmung der jungen Republik?
- Welche – gerade auch finanziellen – Sorgen trieben die expressionistische Dichterin um?
Daneben gab es dann noch den Ehekrach bei der verwitweten Muse, den Mord an Rosa Luxemburg, den Tod Hedwig Dohms und die Pionierin der Waldorfpädagogik
Ach, Sie wollen jetzt auch endlich mal Namen? Bitte sehr:
- Hanna Höch, die Dadaistin mit der Collage, in der sie Noskes Badehosenbild verarbeitete
- Marie Juchacz, die als erste Frau im Reichstag eine Rede hielt
- Sylvia Beach, die in Paris eine Leihbücherei für die englischsprachige Literatur einrichtete
- Gunta Stölzl, eine Bauhaus-Meisterin
Neben den Frauen, deren Jahr dieses 1919 ja war, schildert Unda Hörner aber auch einige Errungenschaften oder Ereignisse, deren Protagonisten männlich waren. Einer davon war Walter Gropius, der Ehemann der verwitweten Alma Mahler, die zu diesem Zeitpunkt bereits eine Affäre mit Franz Werfel hatte; die Berufung von Gropius ans Bauhaus in Dessau samt seinen Gedanken über die gescheiterte Ehe und seine neue Liaison sind mir oft ein wenig de trop.
Mit seinem Institut für Sexualwissenschaften, dass Magnus Hirschfeld im Sommer in Berlin eröffnete, ermöglichte er Frauen – und auch Männern – eine veränderte Einstellung zu Sexualität kennenzulernen und wirkte, auf lange Sicht, an der Emanzipation mit. Trotzdem haben mich die Passagen über diese beiden Männer, die durchaus breiten Raum einnehmen, in einem Buch etwas gestört, das den Titel „Jahr der Frauen“ trägt.
Wie erzählt Unda Hörner?
Möglichst dicht dran. Es gibt zwar immer wieder die rückblickenden Passagen, in denen Unda Hörner schildert, wie ihre Protagonistinnen dorthin gekommen sind, wo sie nun 1919 stehen. Geht es aber um die Erlebnisse in diesem Jahr, rückt sie ihnen – ich habe das so empfunden – ziemlich auf die Pelle.
Rosa Luxemburg spürt die Blicke auf die ihrem Hinkebein, als sie durchs Zimmer geht. (S. 16)
Morgen ist es soweit, beschließt Sylvia Beach, morgen mache ich endlich auf. (S. 213) (…) Nach getaner Arbeit raucht Sylvia eine Zigarette und nickt zufrieden. Doch sie schläft unruhig in dieser Nacht, so groß ist das Lampenfieber. Wie konnte sie bloß vergessen, Werbung für ihren Laden zu machen? Sie hat weder Handzettel verteilt noch die Presse informiert, sich allein auf Adriennes Kontakte verlassen. Wird überhaupt jemand kommen? (S. 214)
Alma wird heiß und kalt, in ihrem Kopf überschlagen sich die Gedanken, und der fürchterlichste von allen gilt der Frage, was die Leute in Wien über sie reden werden, wenn erst publik wird, dass sie eine geschiedene Frau ist. (S. 153)
Das ist eine kleine Auswahl an Schilderungen, mit denen ich ein bisschen gehadert habe; ich drücke das deshalb so vorsichtig aus, weil Unda Hörner mich auf diese Weise natürlich am Leben der Frauen teilhaben lässt. Doch andererseits gibt es die ganzen eher sachbuchmäßigen Passagen, die Rückblicke, die Erklärungen, die sich in meinen Augen mit diesen belletristische Passagen beißen.
Ich habe mit diesem Buch auf jeden Fall eine Menge gelernt. So weiß ich nun, dass die Arbeiterwohlfahrt ihre Wurzeln in diesem Jahr 1919 hat, dass Beate Uhse in diesem Jahr geboren wurde und dass eine Vielzahl spannender, kundiger und engagierter Frauen 1919 gewirkt und vor allem auch etwas bewirkt haben.
Unda Hörner: 1919. Das Jahr der Frauen, ebersbach & simon, Berlin, 2018, ISBN:9783869151694
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