1815 von Thierry Lentz

1815 von Thierry Lentz

Thierry Lentz stellt alle Protagonisten des Wiener Kongresses ausführlich vor – was mich dabei wirklich verblüfft hat: Alle Delegierten damals waren bis auf ein paar Ausnahmen noch ziemlich jung. Und so nimmt es nicht wunder, dass auch die amourösen Eskapaden der Minister, Sekretäre und Monarchen eine Rolle spielen, wenn Thierry Lentz das Geschehen von Herbst 1814 bis Juni 1815 erlebbar macht.

Die Amouren kommen da erst nach einer ganzen Weile, denn die Vorbereitungen des Kongresses, die Zusammenstellungen der Delegationen, die Zuständigkeiten der Einzelnen und die Ziele der vielfältigen Konferenzen, Gespräche und Debatten erläutert er en detail. Dass das Bonmot „Der Kongress tanzt“ nicht zutreffend war, wird mir als Leserin sehr schnell deutlich.

Wichtig ist Thierry Lentz, die Rolle Talleyrands; der Vertreter des besiegten Frankreich schafft es, Frankreich weiterhin als Großmacht zu vertreten – und dass Frankreich das bleibt, ist eins der erklärten Ziele des Kongresses. Das Gleichgewicht zwischen den Mächten des Kontinents soll dafür sorgen, dass alle mit dem Ergebnis zufrieden sind und keinen Anlass sehen, erneut einen großen Krieg anzuzetteln. Dabei werden nicht die Menschen gefragt, über deren Staatszugehörigkeit – modern ausgedrückt – die Herrscher hier entscheiden; es geht um Bevölkerungszahlen, um Gebietsgrößen – nicht um Menschen. Die Legitimität, auf die sich der Wiener Kongress beruft, greift zurück auf die der Herrscherhäuser und deren Ambitionen. Die Ideale der Französischen Revolution sind durch die Machtkriege Napoleons diskreditiert. Im Gegensatz zu diesem erstrebt Talleyrand ein „gallisches“ Frankreich, ein Frankreich in seinen natürlichen Grenzen – ein Ideal, das mit den Zielen der anderen Großmächte gut harmoniert.

Thierry Lentz macht immer wieder, besonders aber in den Schlusskapiteln deutlich, wie er das Ergebnis des Kongresse einschätzt: als Segen, der eine jahrzehntewährende Kriegsperiode ablöste und – aufs Große Ganze gesehen – für 100 Jahre Frieden in Europa sorgte. Alle Kriege des 19. Jahrhunderts waren zielgebunden und die Angelegenheit der unmittelbar beteiligten Staaten. Der Versailler Vertrag von 1919 kommt dagegen schlecht weg. Diese Sicht wird ja schon im Untertitel deutlich: „Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas“.

Neben den Fakten über die unendlich vielen Sitzungen und die Berge von Papier, kommt auch das Leben der Delegationen nicht zu kurz. Schließlich war das keine Sache von wenigen Tagen oder Wochen – rund acht Monate verbrachten die Delegationsmitglieder in Wien. Gesellschaftliches Leben spielte somit eine große Rolle: Bälle, Festbankette, Soupers, Konzerte, Opernaufführungen, die ganze Palette wurde geboten. Man lud sich gegenseitig ein, trumpfte mit besonderen Veranstaltugnen auf – und nutzte die Zeit bei den Vergnügungen durchaus auch, um im informellen Rahmen, Gespräche zu führen.

Eine Karte Europas mit den Ergebnissen des Kongresses
Eine Karte Europas mit den Ergebnissen des Kongresses

Ach ja, die Amouren … Eine ganze Reihe von Frauen spielte beim Kongress eine Rolle, als Gastgeberinnen vor allem, als Salondamen, in deren Räumen Kunst und Politik diskutiert wurden. Einige waren – manchmal nacheinander – mit verschiedenen Herren der Delegationen liiert, ja, es gibt sogar Berichte von Liebeskummer. Thierry Lentz führt diese Aspekte mit leichter Hand in den Gesamtzusammenhang ein – obwohl er die amüsanten Details offensichtlich goutiert, vertauscht er nie den Blick des Berichterstatters mit dem Voyeurs. Übrigens lässt er seine Leser auch an den Tafelfreuden teilhaben 😉

Neben den Folgen der Kriege beschäftigt sich der Kongress auch mit weiterführenden Fragen, z. B. der internationalen Rheinschifffahrt, der Abschaffung der Sklaverei und mit dem Urheberrecht – Entscheidungen, die bis heute nachwirken.

Thierry Lentz schreibt einen gut verständlichen, auch unterhaltenden Stil; die Faktenfülle bändigt er ziemlich souverän. Wegen der Vielzahl an Namen und Funktionen braucht es natürlich trotzdem ein Gutteil Konzentration bei der Lektüre – doch dann kann man das Buch mit Gewinn lesen.

Thierry Lentz: 1815. Der Wiender Kongress und die Neugründung Europas, übersetzt von Frank Sievers, Siedler Verlag, München, 2015, iSBN: 9783827500274

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

Bisher gibt es noch keine Kommentare

Einen Kommentar hinterlassen